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Prolog
Es war ein kühler Augusttag und die Wellen des Atlantiks wiegten sich im Wind. Ein einsamer Fischer segelte mit seinem Boot aufs Meer hinaus. Seit gut einem Monat war ihm kaum noch einen Fisch ins Netz gegangen und seine Familie musste hungern, weil das Geld, welches er beim Verkauf der Fische verdiente, gerade zum Überleben reichte.
Die Steuern waren wieder einmal erhöht worden, die Miete war fällig und er hatte noch Schulden beim Wirt. Wieder einmal war das Geld knapp und würde er nicht jeden Morgen zum Fischen hinaus aufs Meer fahren, hätte er nicht mal die Hälfte des Geldes zusammen.
Der alte Mann seufzte und starrte auf die Wellen. Von Westen zog ein Gewitter auf und die grauen, dunklen Wolken kamen immer näher. Ich sollte lieber wieder zurück in den Hafen fahren, dachte er, als er plötzlich etwas auf dem Wasser sah.
Es war etwas rundes, großes aus hellbraunem Material. Ein Korb, dachte er und beugte sich über die Bordwand des Kahns. Er zog den Korb ins Boot. Ganz schön schwer, ging es ihm durch den Kopf.
Er öffnete den Deckel und erstarrte, als er sah, was sich im Inneren des Korbes verbarg. Ein Kind! Ein Säugling. Ein winziges Etwas, eingewickelt in eine Decke. Auf seinem Bauch lag ein leicht durchnässter Briefumschlag.
Der Mann griff danach und öffnete ihn vorsichtig.
Dieser Brief ist an den Menschen gerichtet, der mein geliebtes Kind findet:
Ihr Name ist Ann Beverly Johanson. Bitte kümmern Sie sich um mein Baby und versorgen Sie es gut, denn wenn Sie diesen Brief lesen, werde ich nicht mehr die Möglichkeit haben dies zu tun.
Ich habe noch einen zweiten Brief beigefügt. Bitte geben Sie ihn meiner Tochter, wenn sie alt genug ist, um zu verstehen.
Ich danke Ihnen. MJ
Der Mann nahm den zweiten Zettel und las ihn sich durch. Als er damit fertig war, schloss er die Augen und atmete tief durch. „Heilige Maria und Joseph!“ Er steckte den Brief wieder in seinen Umschlag zurück.
Er betrachtete das Kind, das immer noch selig in seinem Körbchen schlummerte und strich ihm sanft über den Kopf. Dann holte er das Netz ein und schipperte zurück zum Hafen.
Er und seine Frau besaßen ein kleines Haus nicht weit entfernt vom Hafen und seine Frau wartete bereits vor der Haustür, als er mit dem Korb in der Hand den Weg entlang kam.
Freudig begrüßte sie ihn mit einem Kuss. „Ich habe mir schon Sorgen wegen des Unwetters gemacht“, sagte sie, verstummte aber, als sie seinen Blick sah. „Was ist passiert?“
Der Mann machte ihr mit einer Handbewegung deutlich, sie solle erstmal ins Haus gehen und sie folgte diesem Wink ohne Einwände. Er schloss die Tür hinter sich und folgte ihr zum Tisch, wo er den Korb mit dem Kind abstellte.
Er nahm den Briefumschlag heraus und gab ihn seiner Frau. Sie nahm ihn wortlos und nachdem sie den ersten Brief gelesen hatte, sah sie zum Korb, zu ihrem Mann und wieder zum Korb. Dann stand sie auf und sah hinein.
Ihre Augen strahlten vor Glück, als sie das Kind sah und sie nahm es auf den Arm. „Oh, Schatz!“, seufzte sie und lächelte. „Ein Kind, unser Kind!“ Ihr Mann nickte und zum ersten Mal machte er sich keine Gedanken über das fehlende Geld, denn seine Frau war glücklich und er war es auch.
20 Jahre später
Einbruch und Mord im Hause Marcello - Polizei sucht nach junger Diebin
Am Abend des 26. August 1498 wurde Juanes Marcello erstochen in seinem Haus aufgefunden. Die Polizei geht von einem Raubmord aus.
Die Haushälterin der Marcellos sagte, sie sei durch das Klappern der Fensterläden im Flur geweckt worden. „Als ich auf den Flur rat, sah ich eine dunkle Gestalt im Flur stehen – es war eine junge Frau“, berichtete sie weiter.
Später identifizierte sie die Frau als Ann Beverly Johanson, eine stadtbekannte Diebin, die unter dem Namen Salva bekannt ist.
Als man sie kurz nach Sonnenuntergang in ihrem Zimmer in der Taverne „Esperanto“ aufsuchte, flüchtete sie durch ein geöffnetes Fenster.
Die Polizei geht davon aus, dass es sich bei Salva um die Täterin handelt und hat deshalb ein Kopfgeld von 500.000 Pesos auf sie ausgesetzt. „Wir haben das Kopfgeld anhand ihrer vorherigen Straftaten festgelegt – deshalb diese Summe“, sagte der Leutnant der spanischen Polizei.
Kapitel 1
Ann Beverly Johanson sah sich um. Die Polizei schien sie abgehängt zu haben und auch die Marcellos waren nicht zu sehen. Normalerweise ließen sich die Jungs nicht so einfach abhängen und erstrecht nicht, wenn sie glaubten, Ann hätte ihren Vater umgebracht.
Langsam ging sie auf die nächste Wegbiegung zu. Sie musste vorsichtig sein. Ihre Unachtsamkeit konnte ihr zum Verhängnis werden.
Ann drückte sich an die Wand und spähte um die Ecke. Niemand war zu sehen. Anscheinend war die ganze Stadt zu den Stierkämpfen in der Arena gegangen. Nicht viele ließen sich die Kämpfe entgehen.
Schnell lief Ann durch die Straßen, hielt an jeder Straßenkreuzung an und rannte dann weiter.
Am Morgen war sie von dem Klopfen an ihrer Tür und den lauten Stimmen auf dem Gag geweckt worden. Samuel Longorio, Leutnant der spanischen Polizei, war gekommen, um sie wegen Mordes an Juanes Marcello festzunehmen – und Ann hatte kurzerhand die Flucht ergriffen.
Ann hatte allerdings ein größeres Problem als die Polizei und die Marcellos. Sie war eine Diebin und am gestrigen Abend ins Haus der Marcellos eingestiegen. Dabei hatte sie allerdings beobachtet wie Juanes Marcello von einem Mann erstochen worden war.
Bevor sie wieder verschwinden konnte, hatte der Mann sie bereits entdeckt. Noch bevor er sie ebenfalls umbringen konnte, hörten sie eine Tür aufgehen und der Mann verschwand. Maria, die Haushälterin der Marcellos kam aus ihrem Zimmer, sah Ann und den toten Juanes Marcello und begann zu schreien. Ann wusste sofort, dass die Polizei sie aufsuchen würde, um sie festzunehmen.
Die Polizei und die Marcellos suchten sie – und der Mörder von Juanes Marcello ebenfalls. Das wusste Ann. Er würde sie sicher vor den Marcellos und der Polizei finden. Aber bis dahin wollte sie längst verschwunden sein.
Ann schlich durch eine kleine Gasse, die zum Hafen führte und blieb am Ende stehen. Von dort hatte sie eine gute Sicht über den Platz. Sie hatte vor als blinder Passagier auf einem Schiff nach Marokko mitzufahren und dort bei ihrem altem Freund Moli Sanera zu wohnen.
Plötzlich zupfte ihr jemand am Hemd. Ruckartig wandte sie sich um und atmete erleichtert aus, als sie den kleinen Marquez hinter sich stehen sah.
„Hallo, Bev“, sagte er und grinste sie breit an. „Versteckst du dich?“ Ann musste ebenfalls grinsen. „Ich nehme an, du hast schon gehört was passiert ist.“ Marquez nickte. „Und? Warst du´s?“, fragte er schelmisch und Ann hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben, wandte sich stattdessen aber wieder zum Hafen um.
„Willst du abhauen?“, fragte Marquez nach einer Weile und Ann nickte. „Hm. Ich werde zu Moli nach Marokko fahren – jetzt brauch ich nur noch ein geeignetes Schiff...“ Ann stutzte. Hatte sie gerade ein Schluchzen gehört.
Sie wandte sich zu Marquez um. Der Junge weinte tatsächlich. „Pequena? Was ist denn los?“, fragte sie entsetzt. „Du darfst nicht weggehen, Bev!“, sagte er verzweifelt und die Tränen rannen ihm die Wangen hinunter. „Du bist doch der einzige Mensch, der... ich meine... wie meine große Schwester – du darfst mich nicht alleine lassen!“
Seine Stimme klang hysterisch. Ann ging in die Hocke und zog ihn in die Arme. Marquez schluchzte und sie drückte ihn fester an sich. „Hey, Que...“, begann sie, doch ihr blieben die Worte im Hals stecken, als sie die Marcellos entdeckte. Langsam kamen sie die Gasse entlang.
Der eine hatte einen Holzknüppel in der Hand, der andere zog ein Messer aus seinem Gürtel. Eilig schob Ann Marquez hinter sich und drängte ihn langsam nach hinten wegzugehen. Sie schielte nach hinten und entdeckte einen großen, dunkelhaarigen Mann, der sich mit einem anderen Mann unterhielt.
Sie beugte sich zu Marquez runter. „Schnell lauf zu den beiden Männern rüber! Und bleib bei ihnen – ich komme gleich nach!“, flüsterte sie und schubste ihn ein wenig, als er zögerte. „Na, los!“
Marquez rannte davon und der Marcello mit dem Messer kam auf Ann zu gerannt. Ann duckte sich unter dem Arm mit dem Messer weg und rammte ihm ihren Ellenbogen in den Magen.
Der Marcello brach zusammen und Ann richtete sich wieder auf. Allerdings hatte sie vergessen, dass es zwei gewesen waren. Der zweite traf sie mit dem Knüppel an der Schulter und sie wurde aus der Gasse geschleudert.
Schnell rappelte sie sich auf, als sie bereits ein zweiter Schlag gegen die Hüfte traf. Ann landete unsanft auf dem Rücken. Der Marcello mit dem Messer hatte sich wieder aufgerappelt und trat ihr mit dem Fuß in die Seite.
Ann krümmte sich vor Schmerz, riss sich dann aber zusammen und stand keuchend auf. Der zweite Marcello hob erneut zum Schlag an, doch bevor er zuschlagen konnte, lag er bereits auf dem Boden.
Ann hatte ihm die Beine weggestoßen. Dem Messermann trat sie mit voller Wucht in den Magen. Beim Sturz verlor er sein Messer. Ann schnappte es sich und steckte es in ihren Gürtel.
In diesem Moment traf sie ein Schlag am Schienbein und sie landete neben dem zweiten Marcello auf dem Boden. Dieser stürzte sich sofort auf sie und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht.
Ann steckte den Schlag weg und schlug ihn ebenfalls ins Gesicht. Dann trat sie ihm zwischen die Beine und schnappte sich beim Aufstehen seinen Knüppel. Die beiden Marcellobrüder lagen nebeneinander auf dem Boden.
„Wenn ihr mich das nächste Mal angreift, dann versucht es mit etwas mehr Verstand!“, zischte sie und half den beiden auf. „Haut ab oder ich befördere euch ins Jenseits!“ Der Messermann sah sie zornig an. „So wie unseren Vater?“
Ann sah ihm fest in die Augen. „Ich hab ihn nicht umgebracht“, sagte sie ruhig und wandte sich um. Die beiden Marcellos sahen ihr verwirrt nach. Dann verschwanden sie widerwillig in der Gasse, aus der sie gekommen waren.
Marquez kam auf Ann zu gerannt und sie stürzte beinahe zu Boden, als er sich in ihre Arme warf. „Bev, ich dachte, die bringen dich um!“, sagte er und Ann lächelte. „Das hatten sie auch vor, Que. Aber es ist ja alles gut gegangen.“
Marquez sah sie strahlend an. „Das war toll – wie du die beiden fertig gemacht hast! Wie ein Mann!“ Er verstummte und sah sie verlegen an. Ann lachte.
Plötzlich fühlte sie einen stechenden Schmerz in der Schulter und stöhnte. „Bev, was ist?“, fragte Marquez erschrocken. „Nichts, meine Schulter schmerzt nur etwas“, sagte sie und biss die Zähne zusammen, als sie den Arm bewegte, um Marquez zu verdeutlichen, dass alles in Ordnung sei.
„Sie sollten das lieber nicht tun!“, sagte eine raue Männerstimme hinter ihr.
Ann wandte sich um. Es war der große, dunkelhaarige Mann, zu dem Marquez gerannt war, als die Marcellos aufgetaucht waren.
Er packte ihren Arm und Ann wurden die Knie vor Schmerz weich. Sofort meldete sich Marquez. „Hören Sie auf, Bev weh zu tun!“, schrie er und schlug mit den Fäusten gegen den Mann. Dieser lächelte.
„Hey, kleiner Mann, ich will deiner Bev doch nur helfen“, sagte er und Marquez sah ihn wütend an. „Ich bin kein kleiner Mann! Ich heiße Marquez. Und außerdem darf nur ich sie Bev nennen, stimmt´s Bev?“, sagte er und sah Ann fragend an.
Ann nickte lächelnd. „Ich heiße Ann.“ Sie reichte dem Mann die Hand und er schüttelte sie lächelnd. „Richard“, sagte er und merkte plötzlich wie alt sein Name klang. „Also, eigentlich Ric.“
Ann lächelte verschmitzt. „Sind Sie Arzt?“, fragte sie und er sah sie einen Augenblick verdutzt an, bis ihm plötzlich klar wurde, weshalb sie das vermutete.
„Oh – nein! Ich bin Schatzsucher, aber mein Onkel war Arzt und hat mir einiges beigebracht.“ Marquez sah ihn mit großen Kinderaugen an und auch Ann blieben die Worte im Halse stecken.
Plötzlich viel es ihr wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Richard Withmore, der britische Forscher und Entdecker über den alle Welt sprach und jede Zeitung berichtete. Der Mann, der schon unzählige Schätze untergegangener Schiffe gehoben und aus Verstecken der Piraten wiederbeschaffen hatte.
„Richard Withmore“, murmelte sie. Richard nickte lächelnd und fuhr sich leicht verlegen mit der Hand durch sein dunkles Haar.
„Würden Sie uns einen Augenblick entschuldigen, Mr Withmore?“, fragte sie und zog Marquez ein Stück zur Seite.
„Was ist denn los, Bev?“ Marquez sah sie verwirrt an.
„Que, das ist meine große Chance! Ich könnte von hier wegkommen und müsste nicht mal zu Moli nach Marokko“, sagte Ann.
Marquez schien für einen Moment mit weinen anfangen zu wollen, als er verstand, was sie meinte, fing sich jedoch und sah ihr direkt in die Augen. „Dann will ich mit!“, sagte er mit fester Stimme.
Ann schüttelte den Kopf. „Das geht doch nicht! Du bist hier zu Hause – ich dagegen komme ganz woanders her.“
Marquez wusste sofort, was sie meinte. Ann war keine Spanierin. Die Leute, bei denen sie bis zu ihrem 18ten Lebensjahr gelebt hatte, waren nur ihre Zieheltern gewesen. Sie hatten sie in einem Korb auf dem Meer gefunden und wie ihr Ziehvater immer gesagt hatte – es war ein Wunder, dass sie überlebt hatte.
„Ich will aber nicht ohne dich hier bleiben!“, schrie er und Ann fuhr vor Schreck zusammen. „Meine Familie ist tot! Was soll ich denn hier alleine? Du bist diejenige, die immer für mich gesorgt hat und die mir hilft, wenn ich mal wieder hungern muss! Du bist meine Mum!“
Entsetzt über das, was er gerade gesagt hatte, schlug er sich die Hände auf den Mund. Ann starrte ihn einige Sekunden regungslos an, dann nahm sie ihn zärtlich in die Arme.
Als sie ihn wieder losließ, sah sie ihm tief in die Augen. „Wenn das so ist, dann kann ich mein Kind wohl kaum alleine hier lassen, nicht wahr?“, fragte sie verschmitzt und richtete sich wieder auf.
Sie nahm die kleine Hand und ging wieder zu Richard hinüber. „Mr Withmore, wie viel würde es kosten uns mitzunehmen?“, fragte sie und Richard sah sie einige Momente fassungslos an.
Dann schüttelte er den Kopf. „Das ist nicht ihr Ernst!“ Ann nickte. „Doch. Sie haben gesehen, was hier los ist. Glauben Sie mir, überall ist es besser als hier!“, sagte sie überzeugt und sah ihn bittend an.
„Helfen Sie uns! Wir könnten das Schiff bohnern, in der Kombüse helfen und die Kajüten sauber halten. Bitte!“ Richard atmete tief ein. „Ann, die Mannschaft ist vollständig. Wir hätten keinen Platz mehr und außerdem sind viele, der Männer unglaublich abergläubisch. Eine Frau an Bord bringt Unglück.“
Ann seufzte und wollte schon aufgeben, als Marquez einen Vorschlag machte. „Ann könnte sich doch als Mann verkleiden. Sie müsste nur ihre langen Haare unter einem Tuch verbergen und Männersachen anziehen“, schlug er vor.
Richard fuhr sich ungläubig mit der Hand über sein Gesicht. „Junge, es gibt ein paar Dinge, die können selbst Männersachen nicht verstecken!“, sagte er und merkte ihm selben Moment wie idiotisch das klang.
„Okay. Versuchen wir es! Aber wenn einer der Männer etwas von der Sache mitbekommt, werden Sie im nächsten Hafen rausgeschmissen“, sagte er mit fester Stimme und Marquez sprang jubelnd in die Luft.
„Wir fahren auf Schatzsuche!“, rief er und Ann lachte. Sie wandte sich an Richard. „Also, Capitan, was soll ich anziehen?“, fragte sie kess und lächelte ihn verschmitzt an.
Keine 100 Meter weiter in einer dunklen Gasse stand ein Mann, der die ganze Szenerie beobachtet hatte. Leonardo Lougier war der Mann, der Juanes Marcello erstochen hatte und der nun die Frau verfolgte, die ihn dabei beobachtet hatte.
Sie musste sterben. Nicht nur, weil sie ihn beobachtet hatte, sondern auch, weil sie der einzige lebende Beweis für die dunklen Machenschaften seines Mentors war. Und sein Auftrag war es, alle Beweise zu vernichten.
Nicht einmal vor einer Frau mit einem Kind würde er halt machen! Er hatte immerhin schon seine eigene umgebracht.
Kapitel 2
Richard konnte es noch immer nicht fassen. Es hatte tatsächlich funktioniert. Nachdem er Ann eingekleidet hatte - und einen kurzen Blick auf ihren Körper geworfen hatte – waren sie auf die Queen London gegangen und er hatte Mannschaft kurzum erklärt, dass sie noch zwei neue Mitglieder bekommen hatten.
Erst hatten sie die beiden „Herren“ skeptisch gemustert, aber nachdem einer der Männer einen Kommentar zu der ganzen Sache abgegeben hatte („Wenn das Schiff sinkt, haben wir wenigstens Ballast zum Abschmeißen!“), waren alle lachend wieder an die Arbeit gegangen.
Nun waren sie bereits über zwei Stunden auf dem Meer und am Horizont sank die Sonne immer tiefer.
Ann und Marquez hatten sich sofort an die Arbeit gemacht – Ann trug übrigens den Namen Antonio – und waren fast fertig mit der Säuberung des Schiffs.
Richard sah auf das Wasser. Die leichten Wellen brachten das Schiff zum Schaukeln und der Wind blies in den Segeln.
Das war seine Welt. Die See. Seit er mit seinem Vater zum ersten Mal zum Fischen aufs Meer hinaus gefahren war, hatte er den Wunsch gehegt, später einmal auf dem Meer zu arbeiten – und das tat er ja indirekt auch.
Die meiste Zeit verbrachten sie mit dem Segeln von einer Insel zur nächsten, um die versteckten Schätze der Piraten wiederzubeschaffen und sie zu ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzubringen, soweit das möglich war.
Meisten waren die Besitzer festzustellen, aber ab und zu hatten sie auch Glück und durften das Gold behalten. Den Schmuck und andere Wertgegenstände mussten sie zur Schatzkammer der Queen bringen.
Dieses Mal würde es schwieriger werden, da sie zuerst die Piraten aufsuchen mussten, um herauszubekommen, wo sie ihre Schätze lagerten. Die Mannschaft der Ghost hatte in den vergangenen Jahren viele Frachtschiffe geentert und damit mindestens 2Millionen Pfund eingesackt.
Die Frachtschiffe waren auf den Meeresgrund gesunken und es hatte nur wenig Überlebende gegeben. Reudige Hunde, dachte Richard.
Er hatte schon mit vielen Piraten das Vergnügen gehabt und keiner war so brutal wie die Mannschaft der Ghost. Viele Piraten enterten die Schiffe nur, machten den Leuten Angst und verschwanden dann wieder.
Das Ziel der Ghoster war dagegen die Zerstörung der Schiffe. Es machte ihnen Spaß. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen Ann und Marquez mitzunehmen, ging es ihm plötzlich durch den Kopf.
Richard sah sich um. Die beiden waren bereits fertig und standen nun auf dem Bug des Schiffes. Marquez hatte einen Wischmopp in der Hand und schlug damit gegen einen Seesack, der an einem Seil befestigt war.
Ann stand daneben und beobachtete ihn eine Weile lachend. Dann trat sie neben ihn und zeigte ihm eine Kampfstellung.
Anscheinend wollte sie Marquez einige Verteidigungs- und Angriffstechniken zeigen. Das sie diese beherrschte, hatte sie ja bereits am Nachmittag gezeigt.
Als sie sah, dass er sie beobachtete, stieß sie Marquez leicht in die Rippen und er machte sofort mit der Arbeit weiter. Ohne Worte. Sie schienen ein gutes Verhältnis zu haben.
Hatte er nicht gesagt, sie sei seine Mum? Wie alt war sie eigentlich? Anfang zwanzig, vielleicht etwas älter. Und Marquez – acht, neun, höchstens zehn.
Also, konnte sie nicht seine Mutter sein. Überrascht so erleichtert zu sein, lehnte er sich wieder an die Reling. Die Sonne stand nun knapp über dem Horizont.
„Captain?“ Ann war zu ihm getreten und sah ihn fragend an. „Ist es wirklich in Ordnung, dass wir mitkommen? Craig hat mir erzählt, dass es eine sehr schwierige Mission wird.“
Richard nickte. „Ja. Wir suchen nach der Mannschaft der Ghost, einer der blutrünstigsten und gefährlichsten Piratenmannschaft, die der Ozean je gesehen hat. Sie haben allein von europäischen Frachtschiffen Schätze im Wert von 2 Millionen Pfund erbeutet und mindestens genauso viele ehrliche Seeleute umgebracht“, erklärte er mit verbitterte Stimme.
Ann legte ihm eine Hand auf die Schulter und er sah auf. In seinen Augen konnte sie die Verbitterung, Hass und etwas Trauer erkennen. „Sie haben jemanden, den sie kennen auf dem Gewissen, richtig?“
Richard sah sie erstaunt an und sie konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Schon seit ihrer Kindheit konnte sie einen Menschen innerhalb der ersten paar Sekunden einschätzen und in den Blicken lesen, was sie kümmerte.
Er nickte. „Mein Vater – er war Kapitän auf einem der Schiffe, die von der Ghost gekapert worden waren. Sie haben es angegriffen und nur eine junge Frau konnte sich retten. Mein Vater hat sich zwischen sie und einen der Männer gestellte, als er sie angriff und sie konnte fliehen.“
Ann schauderte. Er war ein guter Mann, dachte sie. „Was ist mit Ihrer Mutter?“, fragte sie und Richard lächelte.
„Sie besitzt ein kleines Häuschen in York mit einem wunderschönen Garten. Ich bringe ihr jedes Mal, wenn ich von meinen Reisen zurückkomme, ein paar neue Samen mit und zeige ihr auf ihrem Globus, wo ich sie gefunden habe“, sagte er schwärmerisch und seine Augen glitzerten.
Er liebte sie sehr, das konnte man ihm ansehen. Und sie musste schreckliche Angst haben, dass er genau wie sein Vater nicht zurückkommen würde.
„Was ist mit Ihren Eltern, Ann?“, fragte er plötzlich und Ann wurde mulmig. Sie sprach nicht gerne über ihre Eltern. Sie liebte sie, aber seit ihrem 18ten Lebensjahr wusste sie, dass es nicht ihre leiblichen Eltern waren.
„Meine Mum ist tot. Sie hat mich in einem Korb auf das Meer gesetzt. Mein Ziehvater hat mich vor dem Hafen von gefunden und mit meiner Ziehmutter großgezogen. Über meinen leiblichen Vater weiß ich nichts.“
Beinahe hätte sie angefangen zu weinen. Dieses Thema war das einzige, was sie dazu brachte Schwäche zu zeigen. Ann schluckte und sah Richard tapfer lächelnd an, als er ihr seine Hand auf die Schulter legte.
„Sie haben schon ´ne Menge durchgemacht, was?“, sagte er und Ann zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich nicht mehr als andere auch.“
Sie schwiegen und sahen auf den Horizont, wo die Sonne langsam unter ging und den Himmel in eine goldene Hülle legte.
„Wie alt sind Sie, Ann?“, fragte Richard beiläufig und Ann lächelte verschmitzt. „Wie alt sind Sie denn?“, fragte sie zurück. Richard wandte sich ihr zu.
„Ich habe Sie zuerst gefragt!“, sagte er und zog einen Schmollmund. Ann lachte. „Na gut! Ich bin 21.“
Richard seufzte. Warum fühlte er sich in ihrer Gegenwart eigentlich so unwohl und gleichzeitig so gut? Ann sah ihn fragend an. „Und?“, fragte sie und er seufzte abermals.
„36“, murmelte er dann mit zusammengebissenen Zähnen und Ann musste unwillkürlich lachen.
Er sah sie eingeschnappt an. „So alt ist das nicht!“, sagte er und wandte sich ab.
Ann drehte ihn zurück und lächelte. „Ich habe nicht gelacht, weil Sie “so alt sind“, sondern weil es Ihnen anscheinend peinlich ist, dass Sie etwas älter sind als ich. Normalerweise müsste es Ihnen doch egal sein, oder?“
Richard legte den Kopf schief und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wollen Sie damit sagen, ich sei zu alt um mir darüber noch Gedanken zu machen?“, fragte er schnippisch und Ann konnte sich ein Grinsen nur mit Mühe und Not verkneifen.
Sie schwieg einen Moment, damit ihre Stimme das nicht verriet. Dann sagte sie: „Sie sind noch jung! Mit 36 ist man noch kein alter Hund und im besten Alter um zu heiraten.“
Richard grinste. „Tja. Das bin ich!“, sagte er und Ann boxte ihn in die Schulter. „Sie Hund!“
„Hey, ich dachte, ich bin noch jung!“, sagte er immer noch grinsend. „Ich habe nicht gesagt, sie seien ein alter Hund – ich dachte eher an etwas wie „reudiger Köter“.“
Richard lachte aus vollem Hals los. Diese Frau war eindeutig schlagfertig! Apropos...
„Wie geht es eigentlich Ihrer Schulter und den anderen Verletzungen?“, fragte er und Ann lächelte. „Gut. So weit ich das beurteilen kann."
In Wirklichkeit tat ihre Schulter höllisch weh und auch am Brustkorb und an der Hüfte schien sie sich verletzt zu haben, aber das wollte sie ihm nicht unbedingt auf die Nase binden.
Er schien ein guter Kapitän zu sein und würde einen kranken oder verletzten Mann der Mannschaft bestimmt ohne Widerrede nach Hause schicken. Sehr fürsorglich.
"Was ist?", fragte er, weil Ann ihn unentwegt angelächelt hatte.
"Oh, nichts. Ich..." Sie verstummte, denn Marquez kam genau in diesem Moment neben ihn auf, den Wischmopp immer noch in der Hand. |
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What time is it? |
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